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20.9.16

Der Tentakelmann


Und wieder streife ich durch die menschenleeren Straßen und überwachsenen Plätze Krallheims. Einsam und verbittert, in nicht enden wollenden Grübeleien gefangen. Ein zersplitterter Mann, der sich vor seinen eigenen Fragmenten fürchtet.
Jedes Mal wenn ich aus dem sicheren Lichtkegel einer Laterne trete und mich die Finsternis umhüllt, bebt mein Atem. Und bei jedem Geräusch, das sich von der Stille dieser späten Stunde abhebt, zucke ich zusammen.
Was war das? Flüstert mir eine diabolische Stimme etwas zu? Ist es er? Oder bloß der säuselnde Nachtwind, der sein Spiel mit mir treibt?
Da! Im Dunkel der Gasse geistert ein Schatten. Kriecht aus einer Abfalltonne und späht um die Ecke. Hat er mich etwa gesehen?
Dort unterm Kanaldeckel gurgelt’s! Ein Gurgeln als würd’ ein schwimmendes Ungetüm nach Luft schnappen. Das muss er sein!
Ich beschleunige meine Schritte, aber wage es nicht zu rennen. Er darf nicht merken, dass ich fliehe. Darf nicht wissen, wohin ich gehe. Er, mein Feind, der mir schon zu lange auflauert.

Endlich habe ich die Uferpromenade erreicht, den gepflasterten Weg entlang des Kaltlaufs, der den Saum der Altstadt mit dem Hafenbezirk verbindet. Erschöpft lehne ich mich gegen die steinerne Brüstung und beobachte den Tanz der Nacht.
In unbändigen Strömen wallt unter mir der schwarze Fluss, dessen Ufer auf der anderen Seite kaum noch zu erkennen war.  Die tobenden Wogen stürzen sich krachend gegen die emporragenden Felsen und die reißende Brandung spült ihren Schaum ans Land, während die im Buschwerk versteckten Zikaden das wilde Rauschen des Wassers mit ihrem Gezirpe untermalen. Dieses Panorama lässt mich erschauern. Denn ich sehe den Schrecken, der sich hinter diesem Bild verbirgt. Die Untiere, die sich durchs Wasser wälzen, ihre schäumenden Mäuler nach mir recken und nach meinem Fleisch hungern. Die brüllende Flut ruft mich. Er ruft mich.
Ich wende mich ab. Die Angst packt mich. Die Angst – sie fließt durch meine Adern, trieft aus meinen Poren, lässt meine Glieder erfrieren, zwingt mich zum Zittern. Die ungeheure Angst, die ihm so schmeckt. Ich darf sie mir nicht anmerken lassen. Da! Die Zikaden kichern schon.

Etwas entfernt erhellt eine flackernde Straßenlaterne ein Wartehäuschen. Ja, das ist der sicherste Weg. Der Bus muss in Kürze ankommen. Ich fürchte nur, dass die Zeit nicht reicht. Was wenn er schneller ist?
Wie auf Stichwort ertönt der ferne Klang der Kirchenglocke und verkündet das nahende Unheil. Für einen Moment verstummt der Gesang der Zikaden und die Sterne blicken herab. Auf der anderen Seite der Straße, nur wenige Schritte entfernt, steht eine einsame Gestalt. Reglos in den Schatten lauernd starrt sie in meine Richtung. Es ist er. Mein Dämon. Er hat mich gefunden und tritt nun ins fahle Licht.
Er hinkt mir entgegen als ob er von einer Brücke gestürzt und wieder aufgestanden wäre. Die Verkleidung, die er trägt, bestehend aus dem übergroßen Mantel mit weitem, aufgestellten Kragen und dem tief sitzenden Hut, kann seinen hochgewachsenen Körper nicht vollständig verhüllen – ein missgestalteter schuppiger Klumpen aus dem mehrere widernatürliche Wulste hervortreten. Wulste wie die eines Oktopoden. Widerwärtige zuckende Tentakel, die mich das Wasser fürchten lassen. Schleimige Fangarme, die mich in meinen Träumen fesseln und würgen. Seine abscheulichen Schreckenswerkzeuge, die mich dazu bewegten ihn den „Tentakelmann“ zu nennen.
Langsam humpelt er auf mich zu, doch ein herannahendes Motorgeräusch lässt mich hoffnungsvoll aufatmen. Er hat es bis zum Randstein geschafft aber der Bus war schneller. Das Fahrzeug hält zwischen uns und ich stürme zur Tür, die sich quietschend öffnet. Das blasse Gesicht des Busfahrers begrüßt mich mit einem müden Lächeln. Erleichtert lasse ich mich auf einen Sitzplatz fallen und sehe aus dem Fenster. Der Tentakelmann ist nicht mehr zu sehen. Ich bin ihm doch noch entkommen.

Kurz darauf nehme ich plötzlich einen fischigen Geruch im Bus wahr, ein grässlicher Gestank wie von verwesten Fischkadavern. Ich erstarre, als sich etwas Feuchtes über meine Schulter legt. „Haannsss …“, zischelt eine düstere Stimme ganz nah an meinem Ohr. Ein kalter Atem streift meinen Nacken. Er sitzt direkt hinter mir.
„Wo hast du gesteckt, mein Freund?“ Ich drehe meinen Kopf zur Seite und beobachte, wie ein Tentakel gelassen mit meinem Hemdkragen spielt. Die eiskalte Nässe der Saugnäpfe zwingt mich, die Schultern vor Ekel hochzuziehen. „Was willst du?“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, meine gesamte Kraft darauf fokussiert, unter der emotionalen Last nicht zusammenzubrechen. Er schlingt seine Arme um mich und säuselt mir zu: „Ich will dir helfen, Hans. Du leidest schon so lange unter deinem Schicksal. Ich möchte dich von deinem Schmerz befreien.“
„Warum verfolgst du mich?“, frage ich, seine Aussage ignorierend, und schaue ihm in seine farblosen Augen während ich mich in seinen schleimigen Fesseln winde.
„Die Frage lautet: Warum fliehst du vor mir?“
„Du bist ein Scheusal, deshalb!“
„Und dennoch redest du mit mir, als wäre ich ein alter Freund.“
Der Tentakelmann setzt einen hässlichen Ausdruck von gespieltem Mitleid auf.
„Du hast vergessen, wer ich bin, hm?“ Ich sehe aus dem Fenster und versuche wegzuhören. Die sich kringelnden Fangarme verstärken ihren Druck. „Hans! Ich bin nicht der Böse. Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin.“
„Endstation“, knistert die trockene Stimme des Fahrers über die Lautsprecher. „Lass mich los!“, verlange ich und versuche mich aus seinem Griff zu befreien. Die Tentakel lockern sich, aber bevor er mich aussteigen lässt, zischt er: „Du weißt, was du zu tun hast. Heute Nacht wird Blut fließen.“ Die Saugnäpfe lösen sich von meiner Haut und ich steige aus. Die Türe schließt und der Bus brummt davon.

Ich betrete das Behandlungszimmer mit der Nummer 230. Es sieht so aus wie immer. Die selben trostlosen Betten mit den selben Sesseln und Beistelltischen daneben, auf denen vertrocknete Blumen und verstaubte Grußkarten liegen.
Meine Augen beginnen zu tränen, schon bevor ich bei ihr angelangt bin. „Mein Täubchen“, flüstere ich mit erstickter Stimme und setze mich an die Bettkante. Ich streichle ihr liebevoll die Wange und küsse ihre Hand. „Mein Täubchen“ – mehr bringe ich nicht über meine schmerzverzerrten Lippen. Eine Träne rollt von meinen Wangen, klatscht auf ihre spröde Haut und wird vom Stoff des Nachthemds aufgesaugt. „Alles wird wieder gut, meine Kleine“, versichere ich ihr.
„Im Ernst? Du lügst deine eigene Tochter an?“, zischt eine Gestalt in Hut und Mantel. Der Tentakelmann macht es sich auf dem Sessel neben dem Krankenbett gemütlich und beginnt sie zärtlich mit einem Tentakel zu streicheln.
„Du! Ich schwöre, wenn du ihr wehtust …“, setzte ich schluchzend an.
„Haannsss …“, begann er spöttisch. „Du weißt, dass ich weder dir noch jemandem anderen etwas antun kann. Die wahre Gefahr für deine Tochter bist du selbst.“
„Hör auf!“, fordere ich.
„Weißt du noch wie es damals war? Hm? Oder hast du wirklich alles verdrängt?“
„Ich weiß nicht wovon du sprichst.“
„Tu nicht so! Du bist schuld, dass sie im Koma liegt. Du allein bis verantwortlich. Du hast mich erschaffen, weil du mickriger Feigling die Schuld nicht ertragen konntest“, erklärt er mit einem fauligen Zähnefletschen und hebt triumphierend seine Stimme. „Die Abnormität, die dich stets verfolgt ist bloß eine Wahnvorstellung, die dir hilft, den Schmerz zu verarbeiten. Ich bin die Personifikation deiner Schuldgefühle, Hans!“
„Du lügst!“, brülle ich zurück. Er steht auf und schwingt seine Fangarme in die Höhe.
„Deine Ignoranz wird dir noch zum Verhängnis. Du bist krank, siehst du das nicht? Dein Leben ist längst ruiniert.“
Ich mache einen Schritt zurück
„Nein! Das ist nicht wahr!“
Er bäumt sich bedrohlich vor mir auf.
„Muss ich dich an jenen Abend erinnern? Als du zu schnell gefahren bist und ihr von der Straße abgekommen seid …“
Verzweifelt sehe ich mich nach einer Waffe um.
„Lass mich in Ruhe!“
Ich erblicke eine Glasflasche auf einem nahen Beistelltisch.
„Liegt dein Auto eigentlich immer noch am Grund des Flusses?“
„Aufhören!“, schreie ich, zerberste die Flasche an der Tischkante und beginne wie besessen mit dem scharfen Flaschenhals auf ihn einzustechen. Immer und immer wieder. Der Mantel und sein Leib sind zerfetzt. Alles zuckt und blutet. Ist er tot? Ist es vorbei? Halt! Da regt sich was. Er röchelt in Agonie: „Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen. Du warst von Anfang an das Monster. Leb wohl, Hans!“ Sein Körper zerrinnt wie Sand zwischen meinen Fingern, bis er schließlich verschwindet.
„Ich bin das Monster“, wiederhole ich ungläubig und realisiere, was ich getan habe. „Täubchen“, krächze ich zerstört. Meine Tochter, mein letzter Lebensfunke, mein Fleisch und Blut – zerfleischt und blutend dem Tod übergeben. Von ihrem eigenen Vater ermordet.


„Ich bin das Monster“, sage ich zu mir selbst bevor ich über das Brückengeländer klettere. Ich sehe wie betäubt in den Abgrund hinab … und lasse los. Ich stürze dem Kaltlauf entgegen, um meinem verfluchten Leben einen kurzen Tod zu bereiten. Doch so ein gnädiges Ableben ist mir nicht vergönnt. Mein Körper schlägt im seichten Wasser auf. Doch anstatt dass mein Schädel vom scharfkantigen Fels zertrümmert wird und mein Verstand auf alle Ewigkeit geleert ist, wird mein Leib bloß deformiert und verstümmelt. Um die verabscheuungswürdigen Reste schlingen sich ein paar dicke Tentakel und ziehen mich tiefer ins Flussbett. Um meinem Dasein ein Ende zu verleihen, dass den begangenen Taten entspricht und um meine neue Gestalt zu vollenden. Die Gestalt des Tentakelmannes.

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