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26.1.17

Eiswolf – Blut und Schnee



Ich streife hungernd durch die weitläufige Waldebene. Ein dunkelgrüner Stachelteppich, gehüllt in bitteren Frost. Graue Wolkentürme trüben die wenigen Sonnenstrahlen. Einsam und ziellos kämpfe ich mich durch das diesige Schneetreiben, vorbei an gefrorenen Seen und umgestürzten Baumstämmen. Wie ein Wolf mit lahmem Bein wate ich durch die weißen Massen, so hart und kalt wie tote Körper. Die dreckigen Schuhe knirschen im Tiefschnee. Unten knacken meine Knochen, oben zittern die Tannen, warten finster auf meinen letzten kalten Atemzug.
Das alte Leben habe ich verlassen, bin befreit, bin vergessen. Ich bin meiner Heimat entflohen. Mörder haben sie mich genannt. Und Monster. Ich sehe immer noch das brennende Dorf, höre die entsetzten Schreie, rieche den stinkenden Tod in der Luft. Doch ich unterdrücke jegliche Gefühle. Die tiefschwarze Rauchsäule ist schon längst hinter den hohen Baumwipfeln verschwunden.
Der Strick, der mich einst zu erdrosseln drohte, ist gerissen. Alles was von mir zurückbleibt ist die rote Spur im Eis. Darunter begraben liegt meine Vergangenheit. Die Pfeilspitze steckt immer noch in meiner Wade, der abgebrochene Schaft ragt blutig aus dem Loch im Hosenbein.
Humpelnd bestreite ich meinen Weg in die Wildnis, nichtsahnend, was vor mir liegt. Müde und gebrochen stütze ich mich auf meinen alten Speer. Kalte Flocken kleben am Schweiß im wehenden Haar und verfangen sich im langen Bart. Unter Anstrengung stoße ich dunstigen Atem aus. Die tränenden Augen zu Schlitzen verengt, wie ein Raubtier auf der Pirsch, starre ich in den brausenden Wind. Rasselnder Atem in den Lungen, Übelkeit im Magen, rasende Ströme in den Adern.

Mit jedem Lidschlag sehe ich mein eigenes Gesicht vor mir: Eine rissige Leinwand aus schwarzem Schlamm, beschichtet mit farbiger Kruste. Es ist ein Gemälde, das mich bedeckt, gemalt mit Blut und Knochenstaub.
Ich sehe es vor mir als fremdes Wesen mit eigenem Willen. Helles beflecktes Fell. Das Maul, zu einem Brüllen aufgerissen, entblößt spitze Reißzähne. Die raue Zunge leckt über dürstende Lippen. Die narbige Schnauze schnuppert in der Witterung.
Zu diesem Tier bin ich geworden. Ein todbringender Eiswolf auf der Jagd.

Ich falle auf die Knie, vergrabe meinen Kopf im Schnee. Feuchtkaltes Feuer. Marternde Eiskristalle. Die Kälte versengt und häutet mich zugleich. Ich tauche wieder auf. Der Wolf starrt mich an, dunkelrot auf weiß. Mein Kopf schmerzt und ich fühle mich, als hätte ich eine Maske abgelegt. Verbissen wende ich mich ab, wissentlich, dass ich dieses Gesicht bis zu meinem Tod und darüber hinaus tragen werde. Über jeder anderen Haut wird immer die Wolfsmaske sein, ganz gleich wie oft ich versuche sie abzuwaschen.

Es raschelt. Ein zartes Braun späht durch die Tannen. Ich verharre. Das Tier muss mich schon seit einer Weile beobachtet und meine Pein stumm mitangesehen haben. Unsere Blicke treffen sich. Es ist ein Reh. Schockiert von meiner Präsenz, vollkommen erstarrt vor Furcht, wagt es nicht die kleinste Bewegung.
Meine wunden Finger umklammern den Speer, heben ihn ganz langsam in die Höhe. Meine Aufmerksamkeit gilt immer noch dem Wildtier. Ich fokussiere die Beute. Bündele meine Kraft. Die Waffe zittert. Und wird zum Geschoss. Metall zerschneidet Luft. Ein dumpfer Treffer. Ersticktes Keuchen. Eisige Stille.

Sekunden später knie ich vor dem Kadaver. Ich nehme mein Messer heraus. Der Stahl in meiner Hand bohrt, reißt und schlitzt sich seinen Weg durch den schlaffen Körper. Aus der klaffenden Öffnung spritzt heißes Blut, bedeckt den Boden mit einem roten Kleid, wärmt meine Hände, schürt meinen lohenden Hunger. Ich vergrabe die Zähne im rohen Fleisch, verschlinge es hastig in groben Brocken. Jeder Muskel, jedes Organ, jeder Knochen absorbiert die Kraft des Tieres. Mein Herz schlägt schneller, meine Finger schütteln die Taubheit ab, mein verletztes Bein fühlt sich kräftiger an. Die neugewonnene Stärke, die mich durchdringt ist ein erfüllender Genuss. Ich reiße ein Stück Bein aus dem leblosen Wesen und klemme es mir zwischen die Zähne. Mit meiner gesamten Willenskraft entferne ich die Pfeilspitze aus meiner Wade. Kein Schrei, bloß ein unterdrücktes Stöhnen und die knackenden Rehknorpel in meinem Mund. Halb gelähmt unter dem Schmerz wühle ich in meinem Beutel, nehme eine dreckige Flasche heraus. Mit dem dunklen Trank begieße ich behutsam meine Wunde. Ein qualvolles Brennen frisst sich in den zerstörten Muskel, nagt mit feurigem Atem an jeder einzelnen Faser. Ich will schreien. Ein stechendes Pochen. Der rote Schnee kühlt den Brand. So ist es besser. Mit einem befleckten Fetzen improvisiere ich eine Binde, wickle sie über das brennend kalte, schwarzrote Loch. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Ein großer Schluck. Wohlige Wärme im Brustkorb. Noch ein paar Bissen meiner Beute und es kann weitergehen.

Schritt für Schritt, eins mit Eis und Schmerz schreite ich weiter. In mir lodert wieder das alte Feuer. Der Hunger ist noch lange nicht gebändigt. Er treibt mich voran, er peitscht mich aus, begleitet von Frostwind und rauer Tannenrinde auf meiner Haut. Zittern vor Erwartung, nicht vor Kälte. Ich brauche mehr… Plötzlich ist da etwas. Ich befehle meinen Beinen den Stillstand. Meine Nase rümpft sich, schnüffelt im Wind. Kopf und Augen schwenken in alle Richtungen. Ohren lauschen angespannt. Ein Hauch von Menschenduft liegt in der Brise, gemischt mit fernen gesenkten Stimmen. Leises Knirschen im Schnee, ein paar hundert Schritte von hier. „Seht!“, ruft einer. Sie haben das tote Reh gefunden. „Er war hier“, urteilt ein anderer. Sie müssen meiner Spur gefolgt sein. Ich wusste, dass es nicht einfach sein würde. Zu viele Leben habe ich genommen, zu viele Körper zerfleischt. Sie suchen Vergeltung, die sie nicht bekommen werden.

Vorsichtig pirsche ich hinter einer Schneeverwehung hervor. Schwarzbraune Fellumhänge flattern im Wind. Drei Späher. Einer mit Bogen, zwei mit Speeren bewaffnet. Der Älteste der Truppe stützt sich auf seine Waffe und untersucht eine frische Fährte. Die anderen wachen starr über den Wald. Lautlos, mit gesenktem Haupt und in gebückter Haltung, schleiche ich an ihre Flanke. Ich höre das begierige Knurren des Eiswolfes in meinem Ohr. Ich lecke mir die Lippen. Dann schlage ich zu.
Überraschtes Geschrei. Der Schütze fällt benommen zu Boden. Ein bärtiger Mann läuft mir mit erhobener Waffe entgegen. Wutentbranntes Brüllen. Mein Speer sticht durch die Luft. Er pariert mit dem Schaft und greift an. Verbissener Blick. Ich weiche zur Seite, lande einen Treffer an seinem Bein. Dumpfes Stöhnen. Ich packe seine Waffe und ziehe ihn zu mir. Ein Tritt in den Unterleib. Er krümmt sich vor Schmerz. Die Speerspitze blitzt herab. Durchbohrter Rücken. Leises Röcheln.
Der Anführer kommt auf mich zugestürmt, blaue Kriegsbemalung im Gesicht. Ich begrüße den Angriff. Wir stechen aufeinander ein. Zwei tanzende Krieger in einer wirbelnden Sphäre aus Blut und Schnee. Einer am Boden.

Der Blaugeschminkte hustet und spuckt unverständliche Flüche. Ich hocke neben ihm. Seine aufgerissenen eisgrauen Augen sehen den Tod kommen. Er keucht in Agonie: „Was bist du geworden?“. Ich empfinde keinen Funken von Reue, Schuld oder Mitgefühl als ich ihn ansehe. Denn das bin nicht ich, der gerade in den Hals meines eigenen Bruders beißt. Das bin nicht ich, der vom Fleisch meiner eigenen Familie speist. Es ist der Eiswolf in mir, der mich dazu zwingt. Meine Ahnen, meine Freunde, mein Volk. Sie alle habe ich verraten. Dieses Wesen, das von mir Besitz ergriffen hat, brachte mir nur Leid und Zerstörung. Das Massaker mag vorerst vorüber sein, doch der innere Krieg wird niemals enden.


Schnaubend kauere ich neben dem Kadaver im roten Schlamm, den Blick abgewandt. Ein bitterer Geschmack im Mund, blutbenetzte Reißzähne, Hautfetzen unter den Fingernägeln. Ein gefrorenes Herz, eine vernarbte Seele. Halb Mörder, halb Raubtier. Doch mein Zustand festigt auch meinen Willen. Noch hat mich die Eiswüste nicht verschlungen. Noch habe ich nicht aufgegeben. Noch schlägt mein schwarzes Herz. Ich werde den Ursprung dieses verderblichen Fluches finden und auf ewig vernichten.

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