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4.1.17

Am Bahnhof


Eine Person sitzt auf einer Bank im Wartebereich des riesigen Konstrukts aus Metall und Beton. Ihr Blick wühlt sich durch das Meer von Menschen, das aus unzähligen Schnellbahnstationen und Zugangstunneln strömt. Unter der Erde spült eine U-Bahn Hunderte heran die, auf Rolltreppen oder in Aufzüge gezwängt, ihren Weg nach oben besteigen. Sie wuseln wild durcheinander. Gehend, schlendernd, humpelnd, rennend. Jedes Paar Beine sucht sein eigenes Ziel.

Ihre Individualität verblasst in der gigantischen Masse und zusammen bilden sie einen anonymen Schwarm. In blinder Lethargie treiben sie durch ihre graue Welt und ihre von Verblendung benebelten Hirne siechen dahin. Geleitet von vernetzten Geräten, mit denen sie sprechen, angezogen von leuchtenden Tafeln und farbigen Prozentzahlen, wie triebgesteuerte Insekten. Der Gestank von schwitzenden Körpern, in deren Ohren musikerzeugende Kabel stecken und von deren Lippen rauchende Papierstummel hängen, verpestet die dunstige Luft. Ein monotones Rauschen, zusammengesetzt aus Gesprächsgemurmel und summenden Belüftungsanlagen füllt die große Halle.
Die Person auf der Bank sitzt stumm da und die vielen tristen Gestalten fließen unbeteiligt vorbei. Sie beobachtet einzelne Komponenten der Masse. Ein männlicher Mensch verschlingt ein Stück künstlicher Nahrung. Ein weiblicher Mensch hält einen schreienden Säugling im Arm. Ein junger Mensch verkauft heimlich bunte Tabletten. Ein alter Mensch verflucht die Preise in einem Werbekatalog. Sie versucht ihr Gesicht nicht zu verziehen und ihren Ekel vor dem Abschaum zu verbergen. Von der widerwärtigen korrupten, kapitalistischen, kaufsüchtigen Gesellschaft wird ihr übel. Sie hat genug von alldem. Genug von Manipulation, Sucht und Gier. Sie lässt sich nicht versklaven und nimmt sich, was sie braucht.
Eine Hand greift in die Jackentasche und berührt das kalte Metall eines Werkzeugs. Sie prüft das Magazin und versichert sich, dass es geladen ist. Die Person erhebt sich und geht auf ein Geschäft zu.
Eine Glastür gleitet zur Seite und die Person zieht die Hand aus der Tasche. Mit dem Schusswerkzeug erhoben brüllt sie die entsetzten Marionetten an. Sie weichen zurück wie eine aufgescheuchte Tierherde und fürchten mit angstverzerrten flehenden Mienen um ihre sinnentleerten Leben. Der Mensch am Verkaufstisch hebt schockiert die wehrlosen Hände über den Kopf und stammelt Bitten der Gnade. Die Person mit dem Schusswerkzeug sieht ihm in die tränenden Augen und für einen kurzen Moment lang war sie bestrebt, das Schusswerkzeug zu senken. Doch dann erinnert sie sich, wie verdorben dieser eine und alle anderen Menschen um sie herum sind und wie wertlos jede vergossene Träne ist.
Kurz darauf marschiert die Person aus dem riesigen Gebäude. In einer Tragetasche hält sie die bedruckten Scheine, die ihr Überleben sichern. In ihren Gedanken behält sie den Anblick der Menschen, denen sie ins Gesicht geschossen hatte.

Sie ist frei. Frei von Menschlichkeit. Aber was ist Freiheit? Und was ist Menschlichkeit?

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