Translate

11.2.16

Subjekt 311


Meine Sinne wurden aktiviert. Ein schmerzhaftes Dröhnen belagerte meinen Verstand. Mit schwachen Augen vernahm ich bloß raumlose Schwärze. Durch trockenen Mund inhalierte ich einen dicken Schleier trüber Luft. Meine Nase sog einen beißenden Geruch von Exkrementen ein. Schwäche erfüllte mich.
Ich kanalisierte meinen Willen und versuchte, mein Bewusstsein von dem erdrückenden Dröhnen zu befreien. Es gelang mir nicht. Wo die Willenskraft scheiterte, versuchte ich es mit Körperkraft. Mit den Händen tastete ich die Umgebung ab und stellte fest, dass ich bäuchlings auf scharfkantigem Fels- oder Ziegelboden liegen musste. Meine Finger streiften unbeholfen weiter über den Stein und berührten etwas Klebriges. Reflexartig zuckte meine Hand zurück. Die Konsistenz der unbekannten Flüssigkeit widerte mich an. Ich versuchte klare Gedanken zu formulieren, doch etwas hinderte mich daran. Mit aller Kraft presste ich meine Hände gegen den Boden. Erst nach dem vierten Versuch schaffte ich es schließlich, mich auf die Beine zu ringen. Ich taumelte einige Schritte in eine unbestimmte Richtung und stieß gegen ein Gitter aus metallenen Stangen.
„Wo bin ich?“. Mein erster bewusster Gedanke. Doch er blieb unbeantwortet. Es war mir im Moment fast gleichgültig. Ich wollte einfach hinaus. Erschöpft gegen die Wand lehnend, versuchte ich mich zu erinnern. Egal woran. Menschen, Orte, Gedanken. Das Dröhnen wurde stärker und schmerzvoller. Es entriss mir die Kontrolle über meinen Geist und ließ mich zurück in der unglaubwürdigen Realität, die nur mehr aus dieser feuchten, kalten und vollkommen dunklen Zelle bestand. Mein Gedächtnis schien irgendwie blockiert. Ich wusste weder wo ich bin, noch was geschehen war. Selbst an meinen eigenen Namen konnte ich mich nicht erinnern. Alles weg. Ich wollte es nicht glauben. Wie lange litt ich bereits unter der Isolation? Wer hatte mir das angetan? Ich wusste keine Antworten auf alle Fragen dieser Welt und es drohte mich zu zerstören.
Am tiefsten Punkt der Verzweiflung riss mich ein Wort aus meinem Delirium. Anna. In meinem verblendeten Zustand konnte ich mich, vergraben unter der schmerzenden Unwissenheit, tatsächlich an einen Namen erinnern. Doch wem gehörte er? Anna. Anna. Anna. Immer wieder spuckte ich ihn als trockenes Krächzen aus meiner Kehle. Ich konnte mich nicht entsinnen. Aber ich musste es wissen. Ich musste einfach. Anna war mein einziger Anhaltspunkt. Die Krücke, die meinen Geist wieder gehen ließ. Sie war alles, was ich jetzt noch hatte. Ich musste sie finden. Ich musste hier raus. Ich musste…

„Subjekt 311, Ihre Zeit ist gekommen“, sprach eine verzerrte Stimme. Dann Rauschen. Dann Knacken. Dann Nichts. Stille.
Mir blieb nur ein Augenblick der desorientierten Verwunderung. Es ertönte ein hoher Alarmton und kurz darauf öffnete sich die Zellentür mit einem langgezogenen Quietschen von allein.

Vorsichtig tappte ich aus dem Kerker. Meine Füße berührten eiskalten Fliesenboden und der Gestank von Exkrementen wurde intensiver. Plötzlich erschallte ein Summen und ein Lichtblitz blendete mich. Ich verdeckte mir die Augen und als ich wieder aufsah, erhellte eine Reihe flackernder Glühbirnen den langen Gang, in dem ich mich nun befand. Er schimmerte in einem kränklichen Grünton und eine Schwade aufgewirbelten Staubes schwebte über dem verwesten Boden. Meine Zelle lag an einem Ende des Korridors, somit gab es nur eine Richtung, in die ich gehen konnte.
Ich schritt also die dreckigen, mit eigenartigen dunkelroten Flecken beschmierten Wände entlang. Es war unheimlich still. Das einzige Geräusch machten meine Schritte. Zu meiner Rechten befanden sich weitere Gefängnisräume. Sie waren alle leer, obwohl ich das nicht genau sagen konnte, da das Innere der Zellen großteils in den Schatten verborgen lag. An jeder Zellenwand war eine Kennzeichnung angebracht. 303… 302… 301… Ein Schreck durchfuhr mich. Hatte ich etwas gehört? Ich blieb stehen und lauschte. Dann flüsterte eine zaghafte Stimme: „Schatz, der Kaffee ist schon wieder kalt…“, gefolgt von einem leisen Kichern. Ich sah mich um, konnte jedoch niemanden sehen. „Hallo?“, rief ich mit einem ängstlichen Unterton. Keine Antwort. Wäre es denn möglich, dass mir ein Erinnerungsfragment einen Streich spielte? Nein, der Klang der Stimme schien zu real dafür. Trotzdem beschlich mich das widerliche Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Ich spürte, dass dieser unheilvolle Ort ein dunkles Geheimnis hütete. Worum es sich handelte, konnte ich jedoch nicht sagen.
Ich wollte meinen Weg bereits fortsetzen als ich zu meiner Linken einige seltsame Einkerbungen an der befleckten Wand entdeckte. Im trüben Licht der Glühbirne konnte ich Schriftzeichen erkennen: „LaUf WeG! SiE kOmMeN!“. Während ich die schwer lesbaren Buchstaben entzifferte, röchelte hinter mir ein unregelmäßiger Atem. „Heh!“. Ich drehte mich um. Am Gitter von Zelle 299 hockte eine degenerierte Gestalt, die früher einmal ein Mensch gewesen sein musste. „Heh!“, geiferte sie wieder. „Frischfleisch! Ja, ich rede mit dir!“. Die Gestalt gab einige unverständliche Laute von sich. „Sie dachten sie könnten mich kontrollieren. Hmhmhm… Aber sie schaffen’s nicht! Ich bin noch bei Verstand. Jaaah!“. Ein weiterer Schwall von tierisch klingenden Lauten quollen aus der Kreatur und ihr nackter Leib zuckte unkontrolliert. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie hatte eine schneeweiße Haut unter der man jeden einzelnen Knochen sah und ihre Wirbelsäule krümmte sich in einem Bogen nach unten, sodass der Kopf auf Schulterhöhe war. Vom fast glatzköpfigen Schädel hingen einzelne Haarsträhnen und ein Sammelsurium von entzündeten Schnitt- und Kratzwunden deformierten ihre Erscheinung. Aber das widerlichste an diesem ekelerregenden Ding war, dass es immer noch an einen Menschen erinnerte, obwohl das Geschlecht scheinbar gänzlich entfernt wurde. Ein Insekt von der Größe eines Fingers krabbelte der Abscheulichkeit über einen Fuß mit langen spitzen Zehennägeln, die man schon fast als Krallen bezeichnen könnte. Die degenerierte Gestalt schnappte sich das Ungeziefer, betrachtete einen Moment lang die langen, haarigen, zappelnden Beinchen des Tiers um kurz darauf in dessen fettes Fleisch zu beißen. Nach dem niederen Mahl leckte sich die hässliche Kreatur den Käfersaft von den spröden Lippen und stammelte schmatzend weiter. „Oh, aber du… Du bist bereits verloren. Hihihi! Du wirst hier niemals lebend rauskommen. Bald bist du genauso wie sie. Diese hässlichen Dinger werden dich kriegen. Sie werden dich töten und von deiner Leiche speisen. Mmmh… Man nennt sie-“. Die Gestalt stockte, sah sich ruckartig um und machte eine verängstigte Grimasse. „Pst! Geh weg! Verschwinde!“, flüsterte sie mehrmals und zog sich zurück in die Schatten ihrer Zelle. Ich versuchte den Vorfall zu verdrängen und ging weiter während das grauenvolle Dröhnen in meinem Kopf weiterhin nicht nachließ und sich meine Gedanken nur um das einzig Wichtige drehten. Anna. Anna. Anna.

Endlich kam ich zu einer Tür. Keine verschlossene Gefängnistür, eine modernde Holztür mit einem goldenen Schild mit der Aufschrift „Archiv“. Ich trat ein und schloss sie hinter mir. Es war ein recht kleiner Raum, eingerichtet mit einem alten hölzernen Schreibtisch, einigen angerosteten Aktenschränken, einer großen Pinnwand und einer Deckenlampe, die noch brannte. Ich stellte fest, dass die Aktenschränke verschlossen waren und auch auf dem Schreibtisch fand ich nichts von Belang. Ich wischte eine dicke Schicht Spinnweben beiseite und sah mir die mit Zetteln vollbehangene Pinnwand näher an. Ich war so gierig nach Wissen, mit dem ich meinen leeren Verstand füllen konnte, dass ich die Texte mehrmals lesen musste, um zu begreifen, worum es sich handelte. Statistiken, Testergebnisse, Protokolle, Zeitungsartikel, Notizen, Fotos und Skizzen waren an die staubige Wand geheftet. Ich filterte die wichtigsten Details heraus und je mehr ich las, desto größer wurde mein Unbehagen.
"Krallheim Sanatorium für geistig umnachtete Individuen… Mai 1941: Direktor unter Verdacht… transorbitale Lobotomie… Neuroleptika… psychotrope Sedierung… sensorische Deprivation… Narkotisierung… Fehlschläge… Verwandlung…“.
Meine Entdeckungen waren in der Tat erschütternd. Die verstörenden Dokumente brannten sich in mein verwirrtes Hirn und bereiteten mir pulsierende Kopfschmerzen. Doch ich fand nichts, das auf Annas Aufenthaltsort hinwies.
Es traf mich wie ein Fausthieb als ich die abstruse Zeichnung sah. Auf der Rückseite der Photographie eines unheimlich wirkenden Gebäudes, das an ein Hybrid aus Krankenhaus und Gefängnis erinnerte, war, vermutlich mit einem Stück Kohle, ein schauriges Bildnis gekritzelt. Die dürre Gestalt eines Wesens hockte in gebückter Haltung vor einem nicht deutbaren Klumpen. Es hatte sein überaus großes Maul in etwas vergraben und sein Blick fixierte den Betrachter. Das Bild war nur sehr grob skizziert und die Farbe verwischt, doch je länger ich es ansah, desto deutlicher konnte ich dieses Wesen vor mir sehen. Ich konnte mir vorstellen, wie sich der kahle deformierte Kopf aufrichtete, sich bis auf Schulterhöhe anhob und die widernatürlich gekrümmte Wirbelsäule sich noch ein wenig mehr zu einem Bogen verformte. Ich konnte beinahe hören wie es schmatzte und mit seinen Krallen scharrte. Ich sah wie bösartige Augen mich anstarrten und wie spröde Lippen einen Namen lispelten. Anna. Ein Luftzug streifte meine Haut. Ich drehte mich um. Hatte ich die Türe nicht geschlossen? Ich wusste es nicht mehr aber ich war mir nun sicher, dass in diesen grauenvollen Gängen eine Gefahr lauerte. Ich schritt an den Aktenschränken vorbei zu einer weiteren Tür mit der Aufschrift „Bitte nicht stören!“.
Ich ging hindurch in einen weiteren Korridor. In der Luft stand ein pestilenzialischer Gestank von Fäulnis und Verwesung, der den Geruch von Exkrementen vollständig erstickte. Im Vergleich zum vorigen Gang gab es hier keine bezifferten Zellen und die Wände hatten hier einen bedrohlichen Rotstich. Verunsichert und mit einem ansteigenden Angstgefühl in der Brust wanderte ich weiter, bis ich zu einer Ecke kam. Ich fragte mich, ob Anna mich überhaupt wiedererkennen würde. Und dann, wie aus dem Nichts, hörte ich sie. Die helle Stimme, die ein längst vergessenes Kinderlied sang.

„Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann
In unserm Haus herum.
Er rüttelt sich, er schüttelt sich,
bleibst du mal stehn, dann frisst er dich.“

Blind lauschte ich dem Gesang der durch den Korridor hallte. Ich bog um die Ecke und folgte der musischen Stimme. Ich befand mich in einer hypnotischen Trance, gebannt durch eine Macht, die mich zu kontrollieren schien. „Er rüttelt sich, er schüttelt sich…“. Ein Anflug von Schwindel überkam mich. Ich stolperte, taumelte und die Schwäche schleuderte mich zu Boden. Mein Körper fühlte sich schwer an. Meine Kräfte schwanden. Das Dröhnen schwelte in meinem Kopf. Das war gewiss nicht Anna. Ich wusste es.
Ich raffte mich auf und sah, wie die Glühbirnen an der Decke heftig hin und her schwangen, so als ob sie angestoßen wurden. Madenzerfressene Überreste von menschlichen Kadavern hingen an ihren eigenen Eingeweiden von der vor Blut triefenden Decke. Wie betäubt stand ich da. Ich stand einfach nur da. „…bleibst du mal stehn, dann frisst er dich“. Die Stimme verstummte. Das Lied erstickte. Die Glühbirnen barsten. Scherben klirrten zu Boden. Ungeheure Panik stieg in mir auf. Ich sah wie unzählige bösartig glimmende Augen mich durchbohrten und spürte einen heißen lechzenden Atem in meinem Nacken. Die Dunkelheit war erfüllt von unendlichem Hunger und eine Horde von knurrenden und keuchenden Schreckgestalten krabbelte an den Wänden entlang und geiferte in einem entsetzlichen tierischen Geheul. Das schöne Lied, ein Trugbild meines Gedächtnisses, zerrissen und zum schauerlichen Hohn mutiert. Ich rannte. Monströse Fänge griffen nach mir, messerscharfe Zähne schnappten nach mir, allesverschlingende Rachen kreischten mir nach und eine Lawine von nackten unmenschlichen Füßen, ergoss sich als trippelnde, hinkende und schleifende Geräusche über die blutbeschmierten Wände und Fliesen. Nach einer weiteren Biegung des Korridors sah ich warmes Licht aus einer spaltbreit geöffneten Metalltür strömen. Ich raste darauf zu während mich die tödliche Armee des Terrors verfolgte um mir Unbeschreibliches anzutun. Dieser Gedanke ließ mich in eine wilde Raserei verfallen. Der Wahnsinn, den dieser Horror in mir auslöste, machte mich schneller, sodass ich einen entscheidenen Vorsprung gewann. Ich war schon fast an der Tür als in dem schwachen Licht ein Schatten vorbeiflog. Eines der Scheusale sprang mir kreischend entgegen. Ich duckte mich instinktiv, griff nach der Klinke und zog sie hinter mir zu.

„Guten Tag! Ich bin Doktor Walter Johann Freimann, Direktor dieser Einrichtung. Bitte, setz dich!“
„Was… Ich verstehe nicht.“
„Komm erst einmal zu Atem. Keine Angst, ich bin hier um dich zu heilen.“
„Aber die… Wie sind Sie…?“
„Beruhige dich. Ruhig… Alles ist gut. Hab keine Angst.“
„Ich habe so viele Fragen…“
„Ich weiß. Lehn dich zurück. Hier, das hilft… Es wird nicht wehtun.“
„Wo ist Anna?“
„Ach, Liebes…“



Der Direktor lächelte und deutete zu einem Spiegel. Und dort saß Anna. In der Gestalt meines Spiegelbildes.

1 Kommentar :

  1. Tolle Spannung! Aber leider hab ich nicht verstanden, was der Raum am Ende bedeutet ... :)

    AntwortenLöschen