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10.12.15

Das Kind


Es war in einer warmen Herbstnacht von 8. auf 9. November des Jahres 1995, in der mich ein Anruf erreichte. Es musste bereits nach Mitternacht gewesen sein als mich das schrille Läuten des Festnetztelefons aus meiner Vertiefung in die fantastischen Horror-Werke von Howard Phillips Lovecraft riss und mir einen nicht allzu kleinen Schock eingejagt hatte. Auf dem Weg zum Apparat mutmaßte ich, um welch späten Anrufer es sich handeln konnte, doch eine vertraute zarte Stimme, die mich an einen fernen Traum erinnerte, kam mir zuvor.

Es war eine alte Bekannte vom Studium, zu der ich nach und nach den Kontakt verloren habe, als sie von ihrem Ehemann verlassen wurde und ihre Tochter nun allein großziehen musste. Sie entschuldigte sich vielmals für die späte Störung und kam gleich zur Sache. Sie bat mich eindringlich um einen Gefallen und ihre Stimme schien von aufgeregter Hast gezeichnet. Ich solle kommenden Abend auf ihre Tochter, Rosie, aufpassen, da sie für unbestimmte Zeit fort müsse, könne mir aber nicht sagen, von welchem Termin sie so plötzlich überrascht wurde. Mein erster Anflug von Argwohn wurde von einer Welle des Mitleids überspült und so sagte ich zu, da ich sowieso nicht viel zu tun hatte dank meines kürzlichen Beinbruchs und meiner daraus resultierenden Beurlaubung.

So befand ich mich also um etwa sechs Uhr abends des folgenden Tages in dem Taxi, das mich zur Sensengasse 23b im süd-östlichen Teil Krallheims bringen sollte. Da die örtliche Bevölkerung diesen Bezirk meidet, obwohl die Ortschaft noch in urbanem Ballungsgebiet liegt, wird sie größtenteils von seltsamen Bauersleuten und verarmten Einwanderern besiedelt. Das wunderte mich auch gar nicht als ich einen Blick aus dem Fenster warf und mich fragte, wieso eine Familie in so eine Gegend ziehen wollen würde.
Große finstere Reihenhäuser verschlangen die letzten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne und warfen ihre düsteren Schatten auf die wetterzerfressenen Straßen. Ihre hohen Fenster lugten mit unheimlicher Wachsamkeit auf mich herab und eine erdrückende Atmosphäre umhüllte mich. Die Giganten beobachteten das brummende Automobil, das sich nun einem markanten Haus näherte. Obwohl sie alle gleich aussahen, hatte dieses eine undefinierbare Besonderheit. Das Gemäuer der Eingangstreppe schien vermoderter und der rostige Eisenzaun des Vorgartens spitzer zu sein als bei seinen Brüdern und Schwestern. Es schnitt eine grimmige Grimasse mit seiner Fassaden-Fratze, so, als ob es mit seinen schief blickenden Fenstern seine Besucher hypnotisieren und in den Rachen der splitternden Tür locken wollte. Es war die verzerrte Perversität eines Hauses mit der Kennzeichnung „23b“.

„Mami, wer ist der Mann?“
„Er wird sich um dich kümmern solange ich weg bin, mein Engel.“
„Wann kommst du wieder zurück?“
„Ich muss jetzt gehen, Liebling. Sei schön brav und hab keine Angst.“

Als mir ihre Mutter erklärte, was ich alles zu beachten habe, starrte mich Rosie mit einer Mischung aus Fremdenangst und Neugierde an. Sie hatte gelockte dunkelblonde Haare, große blaue Augen mit langen Wimpern und eine kleine Stupsnase im hübschen Gesicht mit den geröteten Backen. An ihrem Hals zerfurchte eine mondförmige Narbe ihre blasse Haut.
Sie ist im Frühjahr fünf Jahre alt geworden und obwohl sie für ihr Alter geistig etwas weiter war als die anderen Kinder, sprach sie besonders wenig im Kindergarten. Ich verschaffte mir einen kurzen Einblick in die endlosen Tiefen ihrer jungen Augen und sah inmitten des kindlichen Regenbogens ein dunkles Glimmen von Furcht. Wie ich später erfahren musste, fürchtete sie sich nicht vor mir, sondern vor etwas völlig anderem. Ihre Mutter sprach hastig und ich glaubte für einen Augenblick, eine Form der Abscheu in ihrer Stimme gehört zu haben. Nach den knappen Erklärungen stürmte sie ohne Abschiedsgruß hinaus, knallte die Tür hinter sich zu und ließ mich mit dem Kind allein zurück in dem dunklen Haus.
Obwohl das Gebäude von außen nicht besonders attraktiv und gar archaisch wirkte, so sagte mir die Inneneinrichtung durchaus zu. Die Wände waren zwar recht alt und dreckig und die Diele quietschten bei jedem Schritt, den man tat, doch das Mobiliar wirkte sehr einladend, die Wandbilder geschmackvoll und die Dekoration zeugte davon, dass hier ein Mensch lebt, der Wert auf sein Zuhause legt.
Ich stellte mich Rosie höflich vor und versicherte ihr, ich würde gut auf sie aufpassen. „Was ist mit deinem Bein?“, fragte sie, da es noch immer in Gips gehüllt war. Ich erzählte von meinem Arbeitsunfall und erklärte ihr, wieso ich nun die Krücken brauchte. Sie hörte interessiert zu und war nun auch nicht mehr ganz so verlegen. Anschließend wollte sie mir ihr Spielzeug zeigen und ich ließ mich von ihr an der Hand nehmen und folgte ihr ins Wohnzimmer. Entzückt von ihrer ungezügelten Begeisterung hörte ich ihr zu. Sie stellte mir voll Freude Bobo den Bären, Gigi die Giraffe, Emil den Esel und viele andere Stofftiere vor und erzählte mir, von wo sie kommen, was sie gerne essen, welche Spiele sie am liebsten spielen und so weiter. Das kleine Mädchen gab ihren Freunden eine bemerkenswert facettenreiche Persönlichkeit, sodass ich selbst schon fast an ihrer Lebensexistenz festhielt. Und je mehr Rosie sich in ihre Fantasiewelt vertiefte, desto mehr blühte sie in Verspieltheit und Glückseligkeit auf und schien das Fernbleiben ihrer Mutter gänzlich zu vergessen.
Ungefähr um sieben Uhr bekam die Kleine Hunger und ich wollte ihr ein Abendessen nicht verwehren. Also durchforstete ich die Küche, fand aber nicht besonders viel. Es reichte für ein paar Käsebrote mit Essiggurken. Rosie jedenfalls schien es zu schmecken und nach der Mahlzeit gingen wir ins Bad, um sie bettfertig zu machen. Zähne putzen, umziehen, auf die Toilette gehen, funktionierte – entgegen meiner Erwartungen – alles ohne Gejammer. Es musste ungefähr acht Uhr gewesen sein als ich sie in ihr Zimmer begleitete, das im zweiten Stock lag und auf dem Weg nach oben heulte das Holz der Stufen unter meinen Sohlen furchtbar laut auf.
Das Kinderzimmer befand sich direkt neben den Stiegen, die einen Bogen beschrieben, folglich hatte man aus dem Wohnzimmer also keinen Blickkontakt zur Zimmertür. Sie führte mich also in den Palast ihrer Kindheit und was ich darin sah, war überwältigend. Im Wohnzimmer lagen zwar hier und da ein paar Bücher, Brettspiele und Bausteine, doch das kam nicht einmal annähernd der Menge im Kinderzimmer nahe. Es türmten sich gigantische Haufen von Spielsachen aller Art, viele davon habe ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen. Es gab keinen freien Fleck auf dem Boden, sodass man tatsächlich durch das schier unfassbare Spielzeugmeer waten musste, um zur Insel auf der anderen Seite des Raumes zu gelangen. Rosie navigierte mich geschickt durch das Chaos, da ich mir mit den Krücken schwer tat. Anschließend sprang sie auf die weiche Matratze ihres Bettes, das so aussah, als ob es in der bunten Brandung treiben würde. Ich deckte sie zu, strich ihr liebevoll eine lockige Strähne aus dem Gesicht und kehrte bereits um, doch eine kleine Hand hielt den Griff einer meiner metallenen Gehhilfen fest und ein müdes Mundwerk piepste die Worte "Du musst mir noch eine Geschichte erzählen!". Ich schmunzelte und antwortete mit Bedauern, dass ich keine Geschichten kenne. "Dann erzähl ich dir halt was“, beschloss sie mit einem eigenartigen Unterton, „…ein Geheimnis“. Also setzte ich mich an die Bettkante und hörte ihr zu.

"Also...", begann sie. "...ich hab das Mami nie gesagt aber wir sind nicht alleine in unserem Haus...". Donner grollte draußen. "...es lebt noch wer anderer hier drinnen...". Das Grollen wurde lauter. "...ich hab es Mami nicht gesagt, weil sie mir nicht glauben würde...". Blitze zuckten am Horizont. "...willst du wissen wer noch hier wohnt?“.
Der Himmel öffnete seine Schleusen und Regen prasselte auf das alte Dach nieder. Mein Herz schlug schneller und mein Atem beschleunigte sich. Der Regen erstarkte. Dabei war den ganzen Tag keine einzige Wolke zu sehen. Und während das Kind immer noch auf eine Antwort wartete, entdeckte ich an den Wänden einige Regale, vollgeräumt mit Puppen. Missgestaltete Puppen. Aufgereiht wie Trophäen lagen sie dort. Nur die Köpfe. Der Körper fehlte. Und die Augen. Schwarze Schmierflecken überzogen ihre dämonisch grinsenden Fratzen. Die einst lieblichen Kindergesichter deformiert zu grässlichen Abbildern des Schreckens, deren tote grauenvolle Blicke mich durchbohrten und für immer ein Loch in mein Innerstes rissen. Furcht wallte in mir als das Licht flackerte und die teuflischen Puppenleichen für kurze Zeit in der Dunkelheit verschwanden und wieder auftauchten. Ich wandte mich wieder dem kleinen Mädchen zu und antwortete mit einem ungewollten Nicken.
"Gut...", fuhr sie fort. "...sie sind immer hier...". Das Prasseln des Regens wurde zu einem Rauschen. "...jeden Tag besuchen sie mich...". Mehrere Blitze schlugen nahe dem Haus ein. "...ich glaube Mami hätte Angst vor ihnen, weil sie sie nicht sehen kann...". Das Licht flackerte erneut. "...sie sind oft lieb zu mir aber manchmal hab ich Angst, dass sie mir wehtun...". Eine kaputte Spieluhr begann eine verzerrte Melodie zu spielen. "...ich meine die Babies...". Ein Kasper sprang aus seiner Box und lachte. "...die unsichtbaren Babies...". Etwas scharrte an der Wand und ließ meinen Herzschlag für einen Moment aussetzen. „…psst! Sie sind hier…“, flüsterte das unheimliche kleine Mädchen im akustischen Orkan von Blitzgewitter, Regenrauschen, Melodiegeklimper und dem lachenden Kasper, dessen Wackelkopf mich mit einem feisten Grinsen anglotzte. Rosie presste den Zeigefinger an die Lippen während die bunte Spielwelt sich uns einverleibte. Draußen nagte der Sturm am Fundament des unheilvollen Hauses und wir saßen stumm mitten im Gedärm der manifestierten Kindheitsschrecken. Eine ungeheure Furcht verschlang meinen Geist und Panik ätzte sich in meinen Verstand als ich versuchte, so ruhig zu bleiben, wie es mir in meinem Schockzustand möglich war. Die Angst verseuchte mir die Sinne und würgte mir die Lebenskraft heraus und so kam es, dass ich leise Husten musste, um nicht vom Gift der Unterwelt zu kosten.
Irgendeine dämonische Macht musste dies erfasst haben und ein heftiges Zittern durchfuhr mich als jemand oder etwas, dessen Ursprung unter dem Bett liegen musste, nach meinem gesunden Bein gefasst hatte. Ich spürte, wie eine kleine Hand an meinem Hosenbein zupfte, dann zog, dann mit gewaltiger Stärke daran riss. Instinktiv schnellte mein Bein aus der Masse verstörender Spielsachen heraus und mein Griff schlang sich um die Krücken. Ich schlug mit einem kräftigen, mit Abscheu erfüllten Hieb vom Bett herab, traf aber nur ein kopfloses missgestaltetes Schaukelpferd. Ich schwang meinen Körper in die horrende See um zu fliehen. Die Krücken teils als Staken, teils als Waffe nutzend, rang ich mich in Richtung Tür zurück während glühende Augen mir hinterher starrten und unsichtbare Hände nach mir lechzten. Ich musste aus diesem Zimmer hinaus, wo Spielsachen sich in Ausgeburten des Terrors verwandeln und das unendlich Böse unumschränkte Macht besitzt. Ich war schon fast bei der Tür als ich ein furchterregendes Gelächter hörte. Eine Mischung aus einem verfluchten Keckern und dem Kichern eines Babys. Ich erfasste die Klinke, hievte mich hinaus und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Mein Herz raste, mein Atem keuchte, meine Sicht verschwamm. Doch die Gefahr war gebannt. Vorerst. Ich schleppte mich die quietschenden Stufen hinab ins Wohnzimmer und ließ mich auf das große Sofa fallen. Ich kann meine Erschöpfung zu diesem Zeitpunkt gar nicht beschreiben und meine Pflicht, auf Rosie aufzupassen, war mir nach den Geschehnissen egal und seither hege ich eine traumatische Angst vor der Kleinen. Nun lag ich also da und versuchte, mich zu beruhigen. Bobo dem Bären, Gigi der Giraffe und Emil dem Esel konnte ich nicht in die Augen sehen, da ich fürchtete, auch in ihnen ein dämonisches Glimmen zu vernehmen. Aber schlussendlich erfasste mich doch die Schläfrigkeit und ich musste für kurze Zeit eingeschlafen sein.

Ein mir bis jetzt immer noch unbekanntes Geräusch riss mich gegen Mitternacht aus der Ruhe. Ich setzte mich etwas benommen auf und lauschte. Das Gewitter peitschte immer noch gegen das im Nachtmantel eingehüllte Haus, das für mich nur mehr ein obskures Pandämonium des Horrors darstellte. Ich war der Invasor, der in die Innereien des Bösen eingedrungen war und nun von Mutationen des Schreckens in der Gestalt von verfluchtem Spielzeug und unsichtbaren Dämonen heimgesucht wurde. Ich rätselte weiter über das Geräusch, das mich erwachen ließ. Ist es ein lauter Höhepunkt des Gewitters gewesen oder hatten mich die finsteren Kreaturen immer noch in ihren monströsen Fängen? Eine paranoide Wahnvorstellung oder bloß ein umgestürzter Baum? Just in dieser Sekunde rumpelte ein gigantischer Blitz vom nächtlichen Äther herab und erfasste das Wohnhaus. Er entlud seinen Zorn und ließ das Gebäude in seinem Fundament erschüttern. Der gesamte Raum zitterte für einen Augenblick und kurz darauf flackerten erneut die Lichter, doch diesmal fiel der Strom gänzlich aus.
Ich saß also im Dunkeln, bei nahezu kompletter Schwärze, in einem fremden Heim, halb wahnsinnig vor Angst, gejagt von abscheulichen Abnormitäten. Ich klammerte mich an die Sofapolster und hielt einen Schrei zurück als meine Ohren ein Quietschen aus dem zweiten Stock erfassten. Und ich wusste genau, dass es die Tür zum Kinderzimmer war. Ich hörte wie ein Paar kleiner ungeschickter Füße auf dem Holzboden tapste. Leichtfüßige Schritte näherten sich der Treppe. Ich wusste, sie würden kommen um mich zu holen. Das Wissen um mein nahendes Ende ließ mich in einer kalten Starre dasitzen. Eine kakophonische Melodie eines Schlaflieds drang durch die Decke und die knarrenden Treppen stimmten in das grauenvolle Lied mit ein. Jede Stufe gab ein gequältes Kreischen von sich und die Schritte kamen dem Wohnzimmer immer näher. Ich starrte in die Finsternis als das Wesen die letzte Stufe erreichte, doch ich konnte nichts erblicken, obwohl ich die gefährliche Präsenz unglaublich deutlich fühlen konnte. Ein Kichern schallte durch die Dunkelheit und ich spürte, wie sich ein Händchen auf meine Schulter legte. Ich riss mich aus der Starre und versuchte, mich zur Wehr zu setzen, doch es war bereits zu spät. Ich stolperte bei dem Versuch aufzustehen und die unsichtbare Hand abzuschütteln und kam hart auf dem Boden auf. Meine Krücken lehnten gegen die andere Seite des Sofas und waren somit unerreichbar. Ich wand mich herum und versuchte zu kriechen, doch es gelang mir nicht. Sie waren hier. Sie hatten mich. Die verzerrten Moloche unserer Welt. Die unsichtbaren Babies.

Ich erwachte am 10. November, dem darauffolgenden Tag. Das schrille Läuten des Festnetztelefons ließ mich aufschreien und rettete mich aus einem Albtraum. Was genau passiert war und wie viel sich davon tatsächlich zugetragen hatte, kann ich nicht sagen. Das größte Rätsel, das bis heute ungelöst bleibt, ist die mondförmige Narbe an meinem Hals.




Anmerkung


Diese Kurzgeschichte basiert auf einer wahren Begebenheit...

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